Menschen von oben fotografiert, die an einem Tisch sitzen.

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Scrum eignet sich insbesondere bei der Entwicklung von komplexen Produkten. Am Anfang des Projektvorhabens liegt nur eine Grundidee des Endproduktes vor. Die genauen Anforderungen werden erst während dem Entwicklungsprozess schrittweise mit den Stakeholdern aufgedeckt. Demzufolge erhalten der Kreativprozess und die Ideengenerierung einen hohen Stellenwert.

Das Scrum Team ist selbstorganisierend und interdisziplinär. Idealerweise agiert das Team unter der Beachtung der Scrum-Werte und ist bei einem reifen agilen Vorgehen stets bestrebt, sich zu verbessern und die eigenen Projektschritte zu reflektieren und zu hinterfragen.

Der Product Owner ist für effektives Product Backlog Management und für die „Maximierung des Wertes des Produkts, der sich aus der Arbeit des Scrum Teams ergibt“ verantwortlich (Scrum Guide (2020), S.7). Der Scrum Master verantwortet die Effektivität des Scrum Teams. Zudem unterstützt der Scrum Master den Product Owner bei der Formulierung des Produktziels und beim Product Backlog Management.

Wie ist es mit den Ideen, die erst während des Entwicklungsprozesses aufkommen beziehungsweise die schrittweise aufgedeckt werden? Der Scrum Master unterstützt, der Product Owner hat die Hoheit über das Backlog, das Team setzt um. An sich sind die Aufgaben klar verteilt. Schlussendlich entscheidet der Product Owner über die aufzunehmenden Anforderungen in das Backlog.

Der Scrum Master hat jedoch eine Schlüsselposition, denn er kann den Product Owner dazu ermutigen, dass sich dieser auch die weniger guten Ideen genauer anschaut. Die weniger guten Ideen würden auf den ersten Blick gegen das Prinzip der Produktmaximierung sprechen. Der Product Owner, der für die „Maximierung des Wertes des Produkts“ verantwortlich ist, entscheidet über den Inhalt des Backlogs. Allerdings kann der Scrum Master eine entscheidende Rolle bei der Produktmaximierung spielen, indem er den Product Owner zur Auseinandersetzung mit der weniger guten Idee motiviert. Der Scrum Master kann so zur Aufdeckung der weiteren Nachfrage verhelfen und aktiv zur Innovation und Ideengenerierung beitragen.

Wertschätzung der Idee erfolgte bereits in der Antike

Schon der griechische Philosoph Platon (427-347 v. Chr.) wertschätzte die Idee. In seinem Liniengleichnis setzte Platon die Idee in der Hierarchie des menschlichen, kreativen Prozesses ganz oben. Platon errichtete „Gedankengebäude (…), das wie kein anderes in der abendländischen Geistesgeschichte nachwirkte“ (dtv-Atlas der Philosophie (2000), S.39). Nach Platon erfolgt die Idee durch das geistige Vermögen diese zu entdecken. Das heißt, dass die Idee an sich schon da war und einfach durch geistige Aktivität wiederentdeckt werden kann.

Liniengleichnis und Scrum

Das Liniengleichnis von Platon

Das Liniengleichnis von Platon (Quelle: Politeia, dtv-Atlas Philosophie, S. 38)

Platon entwickelte ein System, um die verschiedenen menschlichen Erkenntnisse einordnen zu können. Er unterteilt die erkennbare Wirklichkeit in vier ungleiche Abschnitte (AB, BC, CD, DE), die auf einer Achse – entlang der Linie – dargestellt werden. Diese Ungleichheit spiegelt die Wertschätzung der jeweiligen Bereiche wider. In der Literatur wird häufig von Welten oder von Reichen wie „Reich der Idee“ gesprochen. Die Abschnitte AB (1. Bereich) und BC (2. Bereich) präsentieren die Ergebnisse, die aufgrund des Erkennungsprozesses (Verstand, Vernunft) zustande gekommen sind. Die Abschnitte CD (3. Bereich) und DE (4. Bereich) der Linie zeigen den Bereich des Sichtbaren (Glauben, Vermuten) auf.

Während der Mensch durch den Verstand aufgrund der Beobachtung und Erfahrung zur Schlussfolgerung kommt, gelangt er durch die Vernunft zu einer neuen Ebene, indem er die vorhandenen Ideen erkennt.

Dem Liniengleichnis von Platon folgend, wird die Idee als oberste Wirklichkeit anerkannt. In der Projektarbeit sollte deshalb der Idee besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ideen entstehen zu jeder Zeit und an jedem Ort - in Projektroutinen, in der Kaffeepause und am Wochenende oder an den Lieblingsorten der Projektbeteiligten. Ideen sind flüchtig und müssen geschützt werden. In der Freizeit ist jeder Projektbeteiligte selbst dafür verantwortlich – eine Notiz auf einem Zettel, ein Sprachmemo oder eine Zeichnung auf dem Unterarm sind praktische Anker. In der Rolle als Scrum Master sollten diese Ideen proaktiv geschützt werden, ein Ideenparkplatz hilft bei der Visualisierung.

Die Ideen bieten noch keinen Mehrwert für ein Projekt, sie sind erst einmal Nährboden für zukünftige Innovationen. Die Ideengeber glauben an sie, haben eine Meinung, eine Vermutung, sehen darin etwas Wahrnehmbares im Sinne Platons. Wir bewerten nicht, es gibt keine guten und keine schlechten Ideen. Aus der Perspektive des Ideengebers ist eine gute Idee meist damit verbunden, dass sie mit den eigenen Ressourcen und Fähigkeiten umsetzbar ist. Der Ideengebende konzentriert sich hier auf seine positiven Erfahrungen und erfolgreichen Lösungsszenarien («Wir lösen das Problem mit einer App. Ich bin ein guter App-Entwickler, das ist mein Beitrag»). Das Team nimmt diesen Impuls gerne auf, es hat ein Problem auf den ersten Blick schnell gelöst. Auf diese Weise droht der erste Einfall zum einzig gangbaren Lösungsweg zu mutieren. Dabei wird die Kreativität der Gruppe nicht genutzt und die gewohnten Denkmuster werden nicht verlassen. Alle weiteren Ideen werden eventuell nicht mehr geäußert oder werden sofort in Konkurrenz mit dem ersten Einfall, der App-Entwicklung, verglichen und bewertet. Doch gerade diese Vielfalt der Ideen im Raum und der daraus entstehende Diskurs soll für die Projektarbeit genutzt werden.

Der Mehrwert der weniger guten Idee

Die auf den ersten Blick weniger guten Ideen haben besonders viel Potenzial für die anschließende Kreativarbeit. Mit einer guten Idee werden zu schnell Lösungen gefunden, die weniger gute Idee reizt durch das Unfertige, das auf den ersten Blick nicht passende.

Der Scrum Master sollte nicht zulassen, dass diese Ideen durch Rationalität (Out-of-Scope, kein Budget, keine Zeit, das ist nicht unser Fokus) zerstört werden. Im nächsten Schritt werden diese Ideen weiter angereichert. Passen sie zu dem Projekt-Purpose (Zweck, Ziel, Bestimmung)? Der Scrum Master wählt hier die passende Kreativ- oder Innovationsmethode aus. Die Methode sollte bewusst nicht aus dem agilen Methodenset kommen, sondern es bieten sich beispielsweise eher LEGO Serious Play, Liberating Structures oder Design Thinking an. Der Scrum Master bleibt Hüter des Prozesses, Moderator und oberster «Ideenschützer». Er begleitet die Idee auf dem Weg zur Erkenntnis. Auf diesem Weg muss darauf geachtet werden, dass das Projektteam in der Kreativarbeit sowohl die assoziierte als auch die dissoziierte Position einnimmt. Die Beteiligten pendeln zwischen Glauben, Wissen, Vernunft, Meinung und Vermutung. Auf diesem Weg entstehen wichtige Perspektivwechsel, die Ideen reifen lassen. An diesem Reifeprozess sollte nicht nur das Projektteam beteiligt sein. Hier wird bewusst auch einen Blick von außen zugelassen. Zaungäste und Unbeteiligte, die der Scrum Master in seiner Rolle eigentlich vor dem Team schützen soll, sind in diesem Stadium des Ideenprozesses wertvolle Sparringspartner und Impulsgeber.

Ideen-Entwicklung im Scrum-Prozess

Ideen-Entwicklung im Scrum-Prozess

Am Ende dieser Phase kann der Scrum Master zusammen mit dem Product Owner entscheiden, wie mit den entstandenen Ideen weiter umgegangen werden soll (siehe Abbildung 2). Der wirtschaftliche Erfolg des Produktes liegt weiterhin in der Verantwortung des Product Owners. In dieser Rolle liegt häufig eine große Leidenschaft in Bezug auf die Inhalte des Backlogs. Diese Sicht kann in der frühen Phase des Ideenprozesses dazu führen, dass Ideen nicht weiterverfolgt werden, zum Beispiel durch das Not-Invented-Here-Syndrom. Die Idee kommt nicht von den fachlichen Verantwortlichen und wird deshalb nicht weiter beachtet.

Deshalb sollte sich der Product Owner auf das Ausarbeiten, Anreichern und Verhandeln der Inhalte konzentrieren. Die Durchführung und Ausgestaltung des Ideenprozesses sollte dem Scrum Master anvertraut werden.

Mit dem bewussten Schützen und Herausnehmen der Ideen aus der Projektarbeit wird die Effektivität von Projektvorhaben erhöht. Ideen werden nicht ungefiltert in den Backlog übernommen, sondern können sich gesondert entwickeln. Platon spricht in seiner Erkenntnistheorie von der Vernunft, die das Wesen der Idee erkennt. Der Scrum Master kann diese Vernunft nutzen und die Ideen werden Impulsgeber für eine neue Wirklichkeit.

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Autor Andreas Kramp

Andreas Kramp leitet das Competence Center Agility in der Line of Business Banking bei der adesso SE und hat seinen Beratungsschwerpunkt im Bereich der agilen Methoden und der Organisationsentwicklung. Außerdem berät er Kunden im Aufbau einer Innovationskultur im Unternehmen.

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Autorin Beatrice Malova

Beatrice Malova ist als Scrum Master, Agile Coach, Projektleiterin und Beraterin bei der adesso Schweiz AG in der Line of Business Financial Services tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte bilden Digital Business Design, agile Vorgehensweisen und Change Management.

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