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Fakultatives Underwriting – was ist das?

Bei der fakultativen Rückversicherung kann der Risikoträger frei entscheiden, ob er ein Risiko annimmt oder ablehnt, die Risiken werden entsprechend individuell geprüft, bewertet und die Verträge individuell gestaltet. Ein solch aufwändiges Verfahren lohnt sich natürlich nicht für das Einfamilienhaus von nebenan, aber auch international agierende Großkonzerne benötigen Versicherungsschutz. Die Risikosummen in diesem Bereich sind so hoch und die erforderliche Expertise so speziell, dass die meisten Erstversicherer das Geschäft meiden und es entweder Rückversicherern oder hoch spezialisierten Industrieversicherern überlassen.

Die Teams, die dort arbeiten, gehören für mich zu den buntesten in der Versicherungswelt. Um die unterschiedlichsten industriellen Großrisiken einschätzen zu können, werden Branchenexpertinnen und -experten eingestellt - so sitzt am Mittagstisch nicht selten ein Kernphysiker neben einer Expertin für Cybersicherheit und einem Bergbauingenieur. Diese Expertinnen und Experten betreiben dann das Underwriting, das heißt, sie bewerten das Risiko, dem das eigene Unternehmen ausgesetzt ist, und verhandeln auf dieser Basis die Versicherungsverträge inklusive der Prämien.

Workflow – wie kann KI unterstützen?

Die Verträge werden in der Regel jährlich neu verhandelt, wobei jeder Underwriter feste Kunden (Accounts) hat. Vor der Neuverhandlung erhält sie oder er mit der Submission risikorelevante Daten wie aktuelle Sach- und Betriebsunterbrechungswerte sowie technische Berichte über die einzelnen Betriebsstätten des beziehungsweise der Versicherten. Die Underwriterinnen und Underwriter prüfen die Informationen und haben dann die Möglichkeit, an verschiedenen Stellschrauben zu drehen, um die Risikosituation für die Rückversicherung akzeptabel zu machen. Sie können zum Beispiel Ausschlüsse und Sublimits in den Vertrag einbauen, Prämien erhöhen, nur einen Teil des Risikos übernehmen und vieles mehr. Anschließend verhandeln sie diese Änderungen mit dem Unternehmen oder einer zwischengeschalteten Maklerfirma und unterschreiben schließlich oder lehnen das Risiko ab.

Das Problem ist die große Menge an Informationen. Underwriter und Underwriterinnen betreuen oft 20 oder mehr Accounts, viele davon mit einer zweistelligen Anzahl von Betriebsstätten, für jede Betriebsstätte gibt es einen oder mehrere hochtechnische Berichte, die oft mehr als 80 Seiten Text umfassen. Hinzu kommt, dass die meisten Verträge zum Jahresende erneuert werden, so dass alle Accounts auf einmal bewertet werden müssen. Das Ergebnis ist, dass das Informationsmaterial oft nur grob überflogen werden kann und wichtige Informationen übersehen werden. Im Extremfall werden Risiken gezeichnet, die der Rückversicherer eigentlich ausgeschlossen hat.

Genau hier liegt die Stärke von KI. Risikoberichte können automatisiert verarbeitet werden - die Anwendungsfälle sind vielfältig. Risikoratings lassen sich exportieren, Risikomatrizen erstellen und Kennzahlen wie Probable Maximum Loss (mittlere Schadenhöhe) und Maximum Foreseeable Loss (maximal mögliche Schadenhöhe, meist szenariobasiert) für die weitere Tarifierung extrahieren, um nur einige zu nennen.

Hier ist die vollständige Liste der mir derzeit bekannten Use Cases:

  • 1. Extraktion der Risk-Ratings
  • 2. Bildung von Risikomatrizen
  • 3. Bildung von Probable Maximum Loss und Maximum Foreseeable Loss
  • 4. Extraktion von Geokoordinaten zur Erkennung von Kumulrisiken
  • 5. Identifikation von Teilrisiken, die gegen Zeichnungsrichtlinien verstoßen
  • 6. Vergleich mit Vorjahresberichten, Darstellung der Risikoqualität auf einer Zeitachse
  • 7. Standardisierte Extraktion der wertvollen Daten in ein Datenbankformat für die weitere Bearbeitung

Was hat sich technisch geändert – warum kann KI solche Texte nun verarbeiten?

Der automatisierten Textverarbeitung waren bisher gewisse Grenzen gesetzt, man benötigte eine sehr große Anzahl fachlich ähnlicher Texte (Batch-Size), um die KI zu trainieren. Dies ist im Underwriting nicht gegeben, da sich die Risikoberichte in den verschiedenen versicherten Branchen stark unterscheiden, ein Risikobericht für eine Ölbohrplattform ist fachlich grundverschieden von dem für einen Raketenstart oder ein Kernkraftwerk. Modernere Lösungen bringen bereits ein breites „Weltwissen“ mit. Das heißt, die KI ist bereits sehr gut darauf trainiert, unterschiedliche Texte zu verstehen. Nun müssen ihr nur noch verschiedene Spezialisierungen beigebracht werden. Dadurch reduzieren sich die Batchgrößen erheblich und liegen in einem Bereich, in dem auch mit vergleichsweise geringen Mengen an Trainingstexten beachtliche Erfolge erzielt werden können.

Skeptikerinnen und Skeptiker argumentieren gerne, dass auch die neue Generation der KI Fehler macht, aber ich denke, ich habe hinreichend dargelegt, dass dies auch der Underwriterin oder dem Underwriter unter Hochdruck passiert. Intelligenz bedeutet schließlich nicht Unfehlbarkeit, sondern nur die Fähigkeit, abstrakt, logisch und vernünftig zu denken. KI muss - wie jeder andere Mitarbeitende im Unternehmen auch - entsprechend der Bedeutung des Arbeitsergebnisses nach dem Vier-Augen-Prinzip eingesetzt werden.

Fazit

Die Vorteile des Einsatzes von KI im Underwriting liegen auf der Hand. Nicht nur können enorme Effizienz- und Qualitätsgewinne erzielt werden, die es der Underwriterin/dem Underwriter ermöglichen, sich stärker auf die nicht automatisierbaren Bereiche ihrer/seiner Arbeit zu konzentrieren, wie Verhandlungsführung, Neukundengewinnung und Festigung bestehender Kundenbeziehungen. Noch wichtiger ist, dass durch die automatisierte Datenextraktion der vielleicht letzte große Datenschatz der Versicherungsbranche gehoben wird. Dies ermöglicht ein gezieltes Portfoliomanagement und Kumulbewertungen, verbessert die Möglichkeiten der statistischen Risikobewertung im Industriebereich und erlaubt erstmals die Ad-hoc-Prüfung spezifischer Risikoexponierungen über ein gesamtes Portefeuille - zum Beispiel die Deckung von Betriebsunterbrechungen durch massenhafte Erkrankung von Mitarbeitern im Falle einer Pandemie - ein Use Case, der nach Corona häufig bei adesso angefragt wurde.

Weitere Informationen zur Digitalisierung des Underwritings findet ihr auf unserer Website. Dort findet ihr verschiedene Methoden und Tools für das Underwriting.

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Bild Christian Sauer

Autor Christian Sauer

Christian Sauer ist Managing Consultant bei adesso. Er beschäftigt sich seit sechs Jahren in verschiedenen Projekten bei Erst- und Rückversicherern mit den Themen Big Data Analytics, Data Management, Data Warehouses und KI. Der studierte Naturwissenschaftler fand seinen Einstieg in die Versicherungswirtschaft im fakultativen Underwriting und entwickelt heute gemeinsam mit der adesso Community of Practice Reinsurance zukunftsweisende Lösungen für Underwriterinnen und Underwriter.

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